kathis blog

Thursday, November 24, 2005

Émile Durkheim

Welche Spezifika seines Werkes machen Durkheim zu einem wichtigen Einflussgeber der anthropologischen (bzw. sozialwissenschaftlichen) Theorienbildung des 20. Jahrhunderts? Worin bestehen die Neuerungen im Denken Durkheims, die spätere Forschungsrichtungen inspirierten?

Ob Politikwissenschaften, Pädagogik, Internationale Entwicklung, Philosophie, Psychologie, Systemtheorie, Soziologie und natürlich Kultur und Sozialanthropologie. Es gibt kaum eine Wissenschaft in der die Persönlichkeit Émile Durkheim nicht auftaucht. Aber was hat dieser Mann so Großartiges geleistet, damit sein Name unvergessen bleibt?

Émile Durkheim wurde am 15. April 1858 in Épinal (Vosges) geboren. Er entstammte einer jüdischen Familie, aus der mehrere Rabbiner hervorgegangen waren. Auch Émile sollte Rabbiner werden. Dieser Umstand prägte Durkheim sehr stark und Zeit seines Lebens spielte die Religion eine wichtige Rolle, sei es nun die praktische Ausübung, die Suche nach ihrem Ursprung oder die Kritik an ihr.
Durkheim lehrte nach seinem philosophischen Staatsexamen zunächst als Professor am Lycée in Sens, dann in Saint Quentin und Troyes. 1885/86 hielt er sich zu Studienzwecken in Deutschland auf, 1892 habilitierte er sich in Bordeaux. Vier Jahre später erhielt er hier den für ihn neu geschaffenen Lehrstuhl für Pädagogik und Sozialwissenschaften. Durkheim war Herausgeber der „L´Année sociologique“, dem ersten sozialwissenschaftlichem Journal Frankreichs. Hier wurden Beiträge unterschiedlicher Wissenschafter publiziert und das Journal gewann bald an großem Einfluss. Auch heute werden die von 1898 an erschienen Bände noch gerne gelesen.
Ab 1902 lehrte er an der Sorbonne in Paris, wo er auch den Rest seines Lebens verbrachte.
Sein einziger Sohn, André fiel im Jahr 1915 im ersten Weltkrieg, was ein schwerer Schlag für den Vater war. Bereits 2 Jahr später starb auch Durkheim in Folge eines Schlaganfalles.[1]

Durkheim gilt als „armchair“ Anthropologe. Er betrieb selbst nie Feldforschungen, sondern fasste die Dinge zusammen, die andere vor Ort beobachtet hatten.

Dieser kurze Überblick über sein Leben lässt noch nicht wirklich erkennen, warum Durkheim noch heute in aller Munde ist. Aber seine Werke verraten bestimmt etwas mehr:
An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich die Wissenschafter einig sind, dass Durkheim ein wichtiges Werk geschrieben hat, dass sich die Wissenschafter der verschiedenen Disziplinen aber nicht einigen können, welches nun DIESES wichtige Werk ist.

„Le suicide“ ist eines der Anwärter auf diesen Titel und wird vor allem von den Soziologen befürwortet. In diesem, in drei Teile geteiltem Werk, stellt Durkheim fest, dass die Selbstmordraten in den unterschiedlichsten Gruppen sehr stark variieren. Die Zahl an Selbstmorden ist unterschiedlich bei Katholiken, Protestanten, Leuten vom Land, von der Stadt, Verheirateten und nicht Verheirateten, Jugendlichen, Erwachsenen und Menschen aus verschiedenen Ländern. [2]
Durkheim unterscheidet hierbei 3 Selbstmordtypen. Den egoistischen Selbstmord, den altruistischen Selbstmord und die Anomie. Vor allem die Anomie ist für die moderne Gesellschaft interessant, da Durkheim feststellt, dass die Selbstmordrate unmittelbar mit den Konjunkturzyklen zusammenhängt. Wichtig ist, dass die Selbstmordrate nicht nur in wirtschaftlichen Krisenzeiten steigt, sondern auch in Zeiten der Hochkonjunktur. (Internet)

Anthropologen hingegen sehen Durkheims Erfolg ganz wo anders:
In seinem berühmten Werk „Les formes élémentaires de la vie religieuse“, das 1912 erschien, widmet sich Durkheim einem Thema, das damals völlig seiner Zeit entsprach: Er befasst sich mit der Frage nach dem Ursprung religiöser Ideen. Dazu versucht er in seinem Werk eine Analyse und Erklärung der einfachsten und primitivsten Religionen vorzunehmen.
Sein Ziel ist es, durch die Untersuchung der primitiven Religionsvorstellungen eine Theorie der höheren Religionsvorstellungen aufzustellen.
Dabei spielen die Schlagworte sakral und profan eine wichtige Rolle. Auch Sigmund Freud sprach schon von diesen beiden Begriffen.
Das Sakrale repräsentiert etwas von den Alltagsgeschäften Abgehobenes, Entrücktes und zugleich Verbotenes. Das Sakrale, so Durkheim, gehe den Lebenden zeitlich voran, beschütze sie, belehre, ernähre, bestrafe und überlebe sie. Die einzige wirkliche übermenschliche Macht, mit der die Menschen tatsächlich konfrontiert sind, sind die kollektiven Vorstellungen ihrer Gesellschaft. Diese kollektiven Vorstellungen sind in der Gesellschaft bereits vorgegeben und das Individuum hat keine andere Wahl als diese als etwas ihm Überlegenes, etwas Höherstehendes zu akzeptieren und zu verinnerlichen. Durkheim zieht also den Schluss, dass Religion nichts anderes sei, als eine Transformation der kollektiven Vorstellungen in sakrale Symbole. Auch Götter sind nur solche sakrale Symbole, und die Kulte dienen der Gesellschaft dazu, ein Gemeinschaftserlebnis zu finden. [3](208 Ethnologie)
Religion hat außerdem vier wichtige Eigenschaften. Sie übt einen Zwang durch die Androhung von Sanktionen an, was von leichtem Tadel bis hin zur körperlichen Bestrafung reicht. Weiters ist Religion allgemein. Sie bringt die Menschen zusammen und hat die gleiche Wirkung auf alle. Als dritte Eigenschaft nennt Durkheim das Traditionelle. Damit meint er, dass die Religion schon vor der Entstehung des Individuums da war und vermutlich auch noch da sein wird, wenn das Individuum nicht mehr ist. Außerdem sei Religion außerhalb des Individuums und könne deshalb über das Individuum bestimmen. [4]
Den Prototyp von Religion glaubt Durkheim dabei im Totemismus der australischen Ureinwohner gefunden zu haben und ist überzeugt die primitivste Religion mit all ihren Elementen aufgedeckt zu haben. Diese Ureinwohner, die sogenannten Arunta-Klane, verehrten jeweils spezifische sakrale Objekte (=Totems). Diese standen in Verbindung mit der jeweiligen Entstehungsgeschichte der einzelnen Abstammungsgruppen. Das Totem war für die Bewohner von größter Bedeutung und die Kulte riefen intensive Gefühle der Zusammengehörigkeit und Solidarität hervor und sicherten somit den Fortbestand der Gruppe.[5]

Ein weiteres wichtiges Werk Durkheims stellt „De la division du travail social“ dar. Durkheim knüpft an Jean-Jacques Rousseau an, der die Ansicht vertrat, die Menschen werden durch einen „contrat social“ zusammengehalten. Aber wie funktioniert dieser Gesellschaftsvertrag und wie schaut er konkret aus? Hier stellt Durkheim die These auf, dass man Gesellschaften in zwei Kategorien einteilen kann. Moderne Gesellschaften, so etwa die französische oder die deutsche Gesellschaft zu Durkheims Lebenszeit, haben einen großen Grad an Arbeitsteilung. Einzelne Individuen oder Gruppen haben verschiedene Aufgaben und benötigen jeweils den anderen oder die anderen Gruppen um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ein einzelner Mensch alleine kann nicht all seine Bedürfnisse abdecken. Dieses Angewiesen sein auf den anderen ermöglicht den Zusammenhalt der Gesellschaft und ermöglicht auch den Ausgleich von Wettbewerb und Konkurrenz.
Ein weiteres Merkmal solcher Gesellschaften ist, dass sie klar strukturiert sind. Sie verfügen zum Beispiel über oberste Organe, eine Gesetzgebung,... In diesem Zusammenhang spricht Durkheim von der „organischen Solidarität“.
Im Gegensatz dazu steht die „mechanische Solidarität“. Als Beispiel hierfür verwendet Durkheim so genannte nicht industrialisierte Gesellschaften. Der typische Stamm ist zwar unterteilt in verschiedene Gruppen, die zwar insofern voneinander abhängig sind, dass sie jeweils Frauen aus anderen Gruppen heiraten, ansonsten jedoch völlig unabhängig leben können. Jede kleine Gemeinschaft für sich, kann ihre Bedürfnisse abdecken. Außerdem sind solche Gesellschaften meistens nicht klar strukturiert. Aber was hält diese Gemeinschaften nun zusammen? Die Antwort findet Durkheim in den Gemeinsamkeiten der einzelnen Gruppen. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Herkunft, gleiche Religion. Diese Tatsache gibt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und so werden die einzelnen Gruppen aneinander gebunden. Es kommt zu einem ausgeprägten kollektivem Bewusstsein, wobei das Individuum ein unselbstständiger Teil der Gesellschaft ist. [ 6]
Diese These ist zwar einleuchtend, aber das würde bedeuten, dass den Menschen, die in einer industrialisierten Gesellschaft leben, nichts mehr an ihrer gemeinsamen Geschichte oder an Religion liegt. Diese Ansicht vertrete ich nicht ganz, denn meiner Meinung nach spielt auch die Religion in allen Gesellschaften eine Rolle. Der Unterschied liegt lediglich in der Häufigkeit bzw. der Wichtigkeit der Ausübung.

Die Neuerungen im Denken, die von Émile Durkheim ausgingen, bezogen sich also darauf, dass es wichtig wurde ein Augenmerk auch auf die Struktur der sozialen Gesellschaft zu richten. Durkheim vertrat die Ansicht, dass es wichtig war auch die Verwandtschaftsverhältnisse oder die Rituale und Regeln einer Gesellschaft zu untersuchen. Damit schaffte er Verbindungen der Kultur- und Sozialanthropologie zu anderen Wissenschaften, wie der Soziologie, der Sprachwissenschaft, der Politikwissenschaft, usw.

Über die Teilung der sozialen Arbeit“ ist Durkheims Hauptwerk im Hinblick auf den „Funktionalismus“.
Fassen wir nun also zusammen: Émile Durkheim gilt als Begründer der französischen soziologischen Schule.
Seine Werke hatten großen Einfluss auf die Theorienbildung im 20 Jahrhundert. Hier sei gesagt, dass nicht nur von einem Einfluss auf Durkheims Neffe Marcel Mauss und in weiterer Folge auf dessen Neffen Claude Levi Strauss die Rede ist.
Zunächst hatte Durkheim Einfluss auf die britische und die amerikanische Anthropologie, wohingegen Frankreich in der ersten Hälfte des 20.Jhdts mit extremen institutionellen Schwächen (die beiden Weltkriege) zu kämpfen hatte.
Durkheim gilt als „Vater“ des Funktionalismus in Europa. Hier beeinflusste er vor allem den Briten Radcliff-Brown, der sich vor allem mit Durkheims Theorien zu den sozialen Beziehungen beschäftigte. Auch im amerikanischen Kulturrelativismus spielte Durkheim eine bedeutende Rolle. Hier sei der Name Boas erwähnt. Später beeinflussten die Werke Durkheims auch des Strukturalismus in Europa, den vor allem der Neffe seines Neffen, Claude-Levi Strauss prägte.Auch nachkommende Generationen beschäftigten sich noch mit den von Durkheim erarbeiteten Themen. Geertz und Leach setzten sich beispielsweise mit Religion und Ritualen auseinander.
Auch in den 50ern bis späte 70ern standen die Ideen Durkheims immer wieder zur Diskussion und wurden weiterentwickelt.
Man kann also deutlich sehen, der Name Durkheim lebt weiter.





[1] Encarta Enzyklopädie. Multimediales Nachschlagen 2004.


[2] BARNARD, A. (2000). History and Theory in Anthropology.Cambridge: University Press. 243 S.

[3] FISCHER, H u. BEER, B. (2003). Ethnologie. Einführung und Überblick. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. 443 S.

[4] PARKIN, R. The French-Speaking Countries.

[6] Vorlesung von O. Univ. Prof. Dr. Andre Gingrich: Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie im Wintersemester 2005

ERIKSEN, T.H. (2001). Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology. London: Pluto Press. 342 S.

(1993). Der große Coron. Das moderne Nachschlagwerk in 20 Bänden. Lachen am Zürichsee: Der Coron Verlag.